Dabei bietet die autonome Region auf kleinstem Raum ziemlich viel: grandiose Natur, zahlreiche historische Stätten und feine Spezialitäten, die es nur dort gibt. Also, bitte aussteigen.
Eines schaut kurz her, die zwei anderen grasen ruhig weiter. Die Ponys interessieren sich kein bisschen für uns Wanderer. Wir sind auf dem Weg von Vetan nach La Salle, eine von insgesamt 23 Etappen des Cammino Balteo. Der 2020 eröffnete Weitwanderweg führt auf geringen bis mittleren Höhen fast durch das gesamte Aostatal, der am wenigsten bevölkerten und kleinsten Region Italiens. Sie nimmt nur ein Prozent der Landesfläche ein, grenzt im Norden ans Wallis, im Westen an Frankreich und im Süden und Osten ans Piemont. Benannt wurde die Wanderroute nach einem Gletscher, der vor etwa 12 000 Jahren das Gebiet formte.
Wanderführer Roberto Giunta weist auf die knapp 4000 Meter hohe Grivola hin und den Gran Paradiso, den höchsten Gipfel Italiens, der im gleichnamigen Nationalpark liegt. Wir kommen an Steinhütten vorbei, an Baumstämmen, die der Wind neu geformt hat, an beeindruckenden Kalksteinpyramiden und leeren Weiden. Mit dem Sommer sind auch die Wanderer verschwunden. Ausser uns ist niemand unterwegs. Roberto macht uns auf Wacholderbüsche aufmerksam, auf lila Schmetterlinge und Silberdisteln. In einem verlassen wirkenden Dorf endet die Tour. Doch Blumentöpfe zeugen davon, dass ein paar Bewohner noch ausharren. «Es ist nicht leicht, hier oben zu leben, gerade im Winter», sagt Giunta. Viele Bauern hielten sich dann mit Holzschnitzereien über Wasser. So findet jeden Januar in Aosta eine Messe statt, auf der sich Schnitzer und Händler treffen.
In einem einfachen Restaurant stillen wir unseren Hunger mit Polenta, die auf fast jeder Speisekarte steht. Sie wurde grosszügig mit Butter und Fontina gratiniert. Dieser Käse darf nur aus roher Vollmilch von Kühen aus dem Aostatal hergestellt werden. Empfehlenswert ist auch der würzige Toma di Gressoney. Nur tausend bis 1500 Laibe zu vier oder fünf Kilo des halbfetten Käses werden pro Jahr hergestellt. Ebenfalls ein Genuss sind der Salignön, eine Art Ricotta, und der Frischkäse Reblec. Ganz zu schweigen von den Wurstwaren, wie dem Lard d’Arnad, einem leicht süsslich schmeckenden weissen Speck, der drei Monate in Kastanien- oder Eichenholzbehältern reift.
Zarte, luftgetrocknete Motzetta oder der Jambon de Bosses, ein mit Bergkräutern gewürzter Rohschinken aus dem Dorf Saint-Rhémy-en-Bosses … An verlockenden Spezialitäten herrscht im Aostatal kein Mangel, daher ist es fast ein Muss, wandern zu gehen oder sich sonst körperlich zu verausgaben.
Die meisten Delikatessen bekommt man in den vielen Lebensmittelgeschäften in der Via Sant’Anselmo in Aosta. Woanders in Italien dominiert die Mode, hier sind es lokale Köstlichkeiten. Der Hauptort des Aostatals ist ein lebendiges Städtchen mit 34 000 Einwohnern. Seine römische Vergangenheit zeigt sich vielerorts in Form von Ausgrabungsstätten. Nicht nur die Römer hinterliessen Spuren in der heute autonomen Region, auch gekrönte Häupter. Vom 11. Jahrhundert an gehörte das Aostatal zum Herrschaftsbereich des Hauses Savoyen, das von 1861 bis 1946 die Könige Italiens stellte. So erwarb 1869 Vittorio Emanuele II. das auf einer Anhöhe bei Lalex gelegene Schloss Sarre. Er liess die Innenräume des 1710 erbauten Gemäuers zu einem prächtigen Jagdschloss umwandeln, das noch immer beeindruckt. Sein Nachfolger Umberto I. dekorierte einen Saal über und über mit Hörnern von Steinböcken und Gämsen als Zeugnis der königlichen Treffsicherheit. Heute mutet diese Trophäensammlung eher makaber an. Wer Geschichte liebt, ist hier richtig. Das Aostatal ge-
hört zu den Regionen Italiens mit den meisten Schlössern und Burgen. Auf dieser unumgänglichen Etappe auf dem Weg durch die Alpen konnten schöne Wegzölle erhoben worden. So entstanden ab dem 11. Jahrhundert viele der Festungen. Ebenfalls sehenswert ist das Schloss von Fénis, eher eine Trutzburg mit fünfeckigem Grundriss, doppeltem Mauerring und Türmen, die im 14. Jahrhundert als Adelssitz errichtet worden war. Wer Fénis, das als eine der besterhaltenen mittelalterlichen Burgen im Land gilt, besucht, würde nicht denken, dass das im 19. Jahrhundert teils verlassene Anwesen als Heu- und Viehstall genutzt wurde.
Oberhalb des hübschen Örtchens Bard am südöstlichen Eingang des Aostatals thront ein weiteres Wahrzeichen:
die Festung Bard. Sie wurde zwischen 1830 und 1838 von den Savoyern wieder aufgebaut, nachdem Napoleon 1800 den Vorgängerbau aus Rache zerstören liess. Seinen Soldaten war es erst nach fünfzehn langen Tagen gelungen, die dort verschanzten österreichischen Soldaten zu besiegen. An der späteren Festung Bard, die heute Museen und Ausstellungen beherbergt, arbeiteten zeitweise bis zu 100 000 Arbeiter, um die drei Gebäude der Anlage mit 283 Räumen zu errichten. Bei einer erneuten Belagerung hätten dort 400 Menschen für drei Monate Zuflucht finden können. Wer also nur durch das Aostatal durchfährt, lässt sich ziemlich viel entgehen.
Text: Juliane Lutz
Fotos: Vallée d’Aoste Tourisme / Stefano Venturini, Enrico Romanzi
Das Sonderstatut
Aufgrund eines Sonderstatuts aus dem Jahre 1948 wurde das Aostatal zu einer autonomen Region. Erlassen wurde es durch ein Verfassungsgesetz der Italienischen Republik in Anbetracht der besonderen ethnischen und sprachlichen Merkmale in dem Gebiet. Das Statut verleiht dem Aostatal zahlreiche Befugnisse in vielen Bereichen, etwa bei den Finanzen. So kann die Region neunzig Prozent ihres Steueraufkommens behalten. Aber auch in Sachen Selbstverwaltung (Schulen, Infrastruktur, Gesundheitswesen) ist das Aostatal wesentlich autonomer als die fünfzehn italienischen Regionen ohne Sonderstatut. Ausserdem garantiert es die Zweisprachigkeit. Amtssprachen sind Italienisch und Französisch. Sardinien, Sizilien, Trentino-Südtirol sowie Friaul-Julisch Venetien sind weitere Regionen mit Sonderstatut.
Wohnen:
Hotel Notre Maison, Vetan: einsam und hoch gelegen, rustikal, gute Küche.
Hotel La Rocca, Châtillon: solides Haus mit Pool.
Essen/Trinken:
Osteria da Nando, Aosta: bekannt für Polenta.
La cave des Amis, Châtillon: Pizzen und anderes.
Einkaufen:
Maison Anselmet: Winzerei in Villeneuve, gute Weine.
Bertolin, Arnad: feine Wurstwaren, Käse und andere Spezialitäten, Führungen mit Degustation.
Geführte Wanderungen:
trekking-habitat.com
lovevda.it/de
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