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23.03.2023

Wenn die Angst mitfährt

An Amaxophobie leiden Menschen, die das Autofahren aus Angst vermeiden und sich dadurch selbst in ihrem Alltag stark einschränken.
23. März 2023

Nur wenige trauen sich, dieses Tabu offen anzusprechen und sich Hilfe zu holen. «Touring» sprach mit zwei be­troffe­nen Frauen über ihre Fahrangst und wie sie sie mithilfe einer verständnis­vollen Psychologin überwunden haben.

Carmen Fidalgo ist kein ängstlicher Mensch. Auch beim Autofahren kennt sie über zwanzig Jahre lang keine Angst – bis zu jenem Tag, an dem ihre Fahrsicherheit durch eine Panikattacke erschüttert wird. «Es traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Herzrasen, Schwitzen, Zittern. Ich dachte: Jetzt kippe ich in Ohnmacht – und das auf der mittleren Autobahnspur!», schildert die Zürcherin den Schockmoment, der so tief sitzt, dass das Autobahnfahren von diesem Tag an für sie nicht mehr möglich ist. Zwar versucht sie es nochmals, aber spätestens auf der Einfahrt kehrt das beklemmende Gefühl zurück. «Da habe ich aufgegeben», sagt die 45-Jährige.
Ausser der Autobahn hat sie aber keine Pro­bleme hinter dem Steuer. In der Stadt und über Land fährt sie wie gewohnt sicher, routiniert und auch gerne. Für längere Fahrten steigt sie auf den ÖV um oder wird zur Beifahrerin. Sie kann ohne grosse Einschränkungen mit ihrer Angst leben. Nach einigen Jahren kommt jedoch der Moment, in dem ihre Vermeidungsstrategie nicht mehr aufgeht. Als ihre Mutter einen Unfall hat, wird ihr bewusst, dass sie nicht einfach ins Auto steigen und auf schnellstem Weg zu Hilfe eilen kann. «Ich fühlte mich auf einmal unselbstständig und ein Stück weit hilflos. Dieses Gefühl verstärkte sich zunehmend, und mir wurde klar, dass das Vermeiden nicht für immer die Lösung sein kann.» Also entschied sie sich, im Internet nach professioneller Hilfe zu suchen, und wurde schliesslich auf fahrangst.ch fündig. Sie nimmt Kontakt mit der Betreiberin der Website, Renate Siegenthaler, auf.

Wenn Stress zur Panikattacke führt

ABS E-bike
«Ich dachte: Jetzt kippe ich in Ohnmacht – und das auf der mittleren Autobahnspur!»

Dass sie bei der Psychologin, Fahrlehrerin und ehemaligen Lastwagenchauffeurin in den richtigen Händen ist, merkt sie schon beim ersten Gespräch. «Sie wusste genau, wovon ich spreche, und ich fühlte mich sofort gut aufgehoben.» Tatsächlich kennt Siegenthaler, die seit 2007 Fahrängstlichen zurück in die Spur hilft, Fidalgos Pro­blem nur zu gut: «Eine Panikattacke ist eine der häufigsten Ursachen für Fahrangst und trifft vor allem Menschen, die mit grossem Stress belastet sind. Die aufgestaute Überlastung kann sich als physiologische Stressreaktion wie aus dem Nichts entladen, und man verliert die Kon­trolle über seinen Körper», erklärt die Expertin. Geschehe dies während des Fahrens, könne daraus die Angst entstehen, dass der Kontrollverlust beim nächsten Mal wieder passiert. Auf der Auto­bahn könne das gravierende Folgen haben. «Die katastrophale Gedankenspirale beginnt, sich zu drehen. Und weil unsere Aufmerk­samkeit auf Autobahnen weniger stark gefordert ist als etwa im Stadtverkehr, haben wir eher Zeit, uns auf körperliche Symptome zu konzentrieren, was die Gedankenspirale in Gang setzt. So wird die Angst verstärkt. Am Schluss werden Autobahnen konsequent vermieden», sagt Siegenthaler.
Einige Menschen könnten damit ganz gut leben und fänden passable Alternativen, beispielsweise den ÖV, um ihr Mobilitätsbedürfnis zu decken. Zum ernsthaften Problem werde es erst, wenn man darunter zu leiden beginnt und der eigene Alltag nur unter Einschränkungen und Kompromissen bewältigt werden könne. «Dann sprechen wir von einer psychischen Fahrangststörung, ­einer Amaxophobie», so Renate Siegenthaler. Grundsätzlich seien Ängste sehr häufig anzu­treffen, Menschen könnten vor fast allem Angst entwickeln. Epidemiologische Studien zeigen, dass zwischen zehn bis vierzehn Prozent der Bevölkerung an einer behandlungsbedürftigen Angstproblematik leiden.

Fahren, fahren, fahren

ABS E-bike
«Fahrangst lässt sich nicht einfach wegzaubern. Es ist ein langer und mühsamer ­Prozess, der nach meiner Hilfe weitergeht.»

Dass sich Fahrangst behandeln lässt, durfte schliesslich auch Carmen Fidalgo erfahren. Im Zweiwochenrhythmus trifft sie sich mit Siegen­thaler für Fahrstunden. Zuerst nur in der Stadt, zum gegenseitigen Kennenlernen. Dann, in der zweiten Stunde, geht es bereits auf die gefürchtete Autobahn – und prompt überkommt sie wieder dieses Ohnmachtsgefühl. Sie versteift sich, Hören und Sehen fällt ihr schwer, das Herz rast. Sie verlässt die Autobahn an nächstmöglicher Stelle und hat Mühe, sich zu beruhigen. Doch aufgeben kommt nicht infrage. Bereits in der darauffolgenden Lektion nehmen die beiden einen neuen Anlauf, und trotz der Angst, die sich auch dieses Mal zeigt, geht es besser. Die Angstexpertin habe ihr dabei kaum Anweisungen gegeben, sondern vor allem durch ihre starke, ruhige ­Persönlichkeit ein neues Selbstbewusstsein am Steuer verliehen. Stück für Stück gewinnt Fidalgo mit jeder Fahrstunde ihre Sicherheit zurück, die Ohnmacht schwindet. Und dann, auf einmal, wird aus der Angst Freude: «Wir waren auf der Autobahn, es war die sechste Lektion, und ich merkte es zuerst gar nicht, aber ich fuhr völlig entspannt. Es war richtig schön, zu fahren», schildert sie ihre Triumphfahrt.
Insgesamt absolviert sie neun Fahrstunden, was aber nicht bedeutet, dass sie danach einfach «geheilt» war. Im Gegenteil, wie Renate Siegen­thaler betont: «Fahrangst lässt sich nicht einfach wegzaubern. Es ist ein langer und mühsamer ­Prozess, der nach meiner Hilfe weitergeht. Der Schlüssel zum Erfolg ist das regelmässige, selbstständige Üben. Autofahren lernt man nur durch Autofahren, und auch eine Fahrangst lässt sich nur mit Konfrontation auflösen.» Carmen Fidalgo hat sich diesem Prozess gestellt und fährt heute regelmässig und angstfrei auf der Autobahn. «Beim Überholen pocht mein Herz zwar immer noch, aber ich habe keine panische Angst mehr. Im Sommer bin ich sogar in Italien Auto­bahn gefahren. Das hätte ich früher nie für möglich gehalten und macht mich sehr stolz», so die einstige Angstpatientin.

Trotz bestandener Fahrprüfung nie gefahren

ABS E-bike
«Ich fürchtete mich vor schwierigen, stressigen Situationen im Strassen­verkehr und malte mir in Gedanken aus, was alles passieren könnte.»

Den noch schwierigeren und längeren Weg hat Mia Moser* zurückgelegt. Auch sie litt unter einer Fahrangststörung und war bei Siegenthaler in ­Behandlung. Jedoch nicht aufgrund einer Panikattacke, sondern weil sie schlicht sehr lange Zeit nicht Auto gefahren ist. Mangelnde Fahrpraxis: der andere, häufige Grund für eine Amaxophobie. Während stressbedingte Panikattacken jede ­Altersklasse, jedes Geschlecht und jede Berufsgruppe treffen können, beschränkt sich die Fahrangst aufgrund mangelnder Praxis mehrheitlich auf Frauen. Denn deutlich mehr Frauen als Män­ner trauen sich nach bestandener Führerprüfung nicht zu, selbstständig zu fahren, und würden ­dadurch verpassen, sich Routine und Fahrsicherheit anzueignen. Und da in Beziehungen häufig der Mann gerne den Sitz hinter dem Lenkrad für sich beansprucht, bleibt der Frau nur die Rolle der Beifahrerin. Das kann irgendwann zum Problem werden.
Bei Mia dauerte es fast zwanzig Jahre. Obwohl sie den Führerschein im Alter von zwanzig macht, fährt sie so gut wie nie. Einerseits vertraut ihr ihr Vater das Familienauto nicht an, andererseits lebt sie in der Stadt, wo sie mit dem ÖV überall hinkommt. Erst als sie Kinder bekommt und aufs Land zieht, muss die Ärztin feststellen, dass das Auto sehr praktisch wäre. Als sie dann noch vor einem Jobwechsel steht, der auch Pikettdienst beinhaltet, kommt sie ernsthaft ins Grübeln. «Wie komme ich schnellstmöglich ins Spital? Mit dem Taxi? Mit dem Bus?», fragt sie sich und merkt, dass die neuen Lebensumstände die Angst, Auto fahren zu müssen, noch verstärken. «Ich fürchtete mich vor schwierigen, stressigen Situationen im Strassenverkehr und malte mir in Gedanken aus, was alles passieren könnte. Vor allem das ­Alleinfahren bereitete mir grosse Sorgen.» Trotzdem will sie das Problem lösen. Sie nimmt ein paar Fahrstunden, die aber nicht den gewünschten Erfolg bringen. Der Stachel sitzt viel tiefer, als dass sie ihn einfach mit ein paar Übungseinheiten herausziehen kann.

Den Fahrstil akzeptieren

Alleine werde sie es nicht schaffen, wird ihr klar, und so wendet sie sich an die Expertin für Fahrangst. Es folgt ein erster Termin im Auto von Renate Siegenthaler. Nach einem Gespräch über die Angst, die Hintergründe und die auslösenden Faktoren folgen auch schon die ersten Fahrmeter. «In der nächsten Stunde – und das war der wesentliche Unterschied zu den regulären Fahrstunden – sind wir auf mein Auto umgestiegen», sagt Mia und betont ebenfalls Siegenthalers ­ruhige, positiv verstärkende Präsenz. Zu Beginn wird nur in Dreissigerzonen gefahren. Zunächst mit der Expertin als Beifahrerin, dann sehr schnell auch allein als «Hausaufgabe». Schritt für Schritt tasten sie sich vor, bis Mia auf der «richtigen» Strasse fahren kann.
Als der Jobwechsel immer näher rückt, fahren sie den Weg zum neuen Arbeitsplatz mehrmals ab. In der letzten Sitzung folgt die Psychologin ­ihrer Patientin mit dem eigenen Auto, stets über die Freisprechanlage verbunden. «Immer, wenn ich das Gefühl hatte, etwas falsch zu machen, sagte sie mir, dass ich von aussen betrachtet ganz normal fahre. Meine Zweifel seien un­begründet. Das war der Durchbruch», schildert Mia ihren Aha-Moment. Innerhalb mehrerer ­Monate kann sie ihre Angst ablegen und fährt seither täglich zur Arbeit, zum Einkaufen oder um die Kinder abzuholen. Einzig vor dem hektischen Stadtverkehr hat sie noch ein wenig Respekt.
Wie bei Carmen Fidalgo war auch bei Mia Moser ausschlaggebend, dass sie eine verständnisvolle Beifahrerin hatte, die ihr nicht ihren Fahrstil aufzwingen wollte, sondern akzeptierte, wie sie fuhr. Und daran könnten sich viele ein Beispiel nehmen. Denn ein Beifahrer, der ständig kritisiert und den eigenen Fahrstil als den einzig richtigen betrachtet, kann die Unsicherheit noch verstärken und eine Scham hervorrufen, welche die Betroffenen oftmals daran hindert, über ihre Fahrangst zu sprechen. Dabei ist sie nichts, wofür man sich schämen müsste. Wer nämlich den Mut aufbringt, sich die Angst einzugestehen, und sie aus eigenem Antrieb zu überwinden versucht, hat nicht nur grosse Erfolgschancen, sondern geht auch oftmals gestärkt daraus hervor. Zeit also, mit diesem Tabu zu brechen. Oder in den Worten des libanesischen Dichters Khalil Gibran: «Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt, beherzt ist, wer die Angst kennt und sie überwindet.» •

* Name geändert.

Text: Dominic Graf
Fotos: Fabian Hugo

«Jeder kann die Angst überwinden»

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Renate Siegenthaler, Psycho­login und Fahrlehrerin, gründete 2007 fahrangst.ch. 

Was bedeutet es, wenn jemand unter Fahrangst leidet?
Renate Siegenthaler: In der Psychologie spricht man von einer Angststörung, wenn ein Mensch so unter der Angst leidet, dass er den Alltag nicht mehr normal leben kann. Bei der Fahrangststörung wird das Fahren vermieden, obwohl dies mit grossen Einschränkungen verbunden ist. Die Angst kann sich körperlich zeigen, etwa durch Schwitzen oder Atemnot. Oder kognitiv in Form von Befürchtungen, was alles passieren könnte. Oftmals treten die Symptome zusammen auf.

Wie entsteht eine Fahrangststörung?
Ich stelle vor allem zwei Auslöser fest: ­Panikattacken oder mangelnde Fahrpraxis in Kombination mit Versagensängsten. Erstere ist eine plötzliche, ­körperliche Stressreaktion auf eine generelle Über­lastung. Geschieht es beim Fahren, kann dies die Angst auslösen, dass es beim nächsten Mal wieder ­passiert, mit verheerenden Folgen. Bei der fehlenden Praxis sind Personen betroffen, die lange nicht gefahren sind. Meist zweifeln sie trotz Führerschein an ihren Fahrkompetenzen und trauen sich das Autofahren nicht zu.

Ist die Angst heilbar?
Jeder kann die Angst überwinden. Aber es ist meist ein langer Prozess. Meine ­Aufgabe besteht vor allem darin, Geduld und Sicherheit auszustrahlen und den Betroffenen mitzugeben, den eigenen Fahrstil zu akzeptieren. Bei der mangelnden Fahrpraxis sind es oft auch spezifische ­Situationen wie Angst vor dem Parkieren oder Spurwechsel, die angegangen werden müssen. Und hier braucht es den Fahrlehrer.

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