Doch was es wirklich bedeutet, sein Leben oder zumindest einen Teil davon in einem Auto zu verbringen, und welche Pflichten und Regeln daran geknüpft sind, wird gerne ausgeklammert.
Sie zieht ihre rechte Socke ein Stück herunter. «Und dann war’s ‹over› mit Vanlife», sagt Stephanie Köllinger, während sie die Narbe präsentiert, die sich senkrecht über ihren Knöchel erstreckt. Ein komplizierter Fussbruch beim Skaten riss sie im letzten Jahr von einer Sekunde auf die andere aus ihrem dynamischen Lebensstil heraus – zurück in die immobile Welt, der sie ein halbes Jahr zuvor den Rücken gekehrt hat. Alltägliche, für das Leben im Fahrzeug essenzielle Handlungen wie das Ein- und Aussteigen, das Bedienen der Pedale, das Entleeren der mobilen Toilette oder das Gassigehen mit Mischlingsrüde Filou waren nicht mehr möglich. Also zog sie zurück in die Wohnung ihrer Partnerin. Ein Moment, der ihr erneut vor Augen geführt habe, mit welchen Verantwortungen die vermeintlich unendlichen Freiheiten des Vanlifes verbunden sind. Und: «Ich habe in dieser Zeit erkannt, dass mir das Leben und Arbeiten ganz ohne festen Wohnsitz doch ein wenig zu viel ist», sagt die dreissigjährige Zentralschweizerin. Heute erfüllt sie ihr Sechzig-Prozent-Pensum als Sozialarbeiterin bei Pro Senectute Zug an drei Wochen im Monat im «Van-Office». Eine Woche ist sie im Büro und in ihrer Zuger Wohnung. «Das ist die perfekte Lösung für mich.»
Das Leben auf kleinem Raum hat sie schon länger fasziniert. «Als ich von der Tiny-House-Bewegung erfuhr, liess mich der Gedanke nicht mehr los. Da ich am liebsten in der Natur bin und Abwechslung und Flexibilität mag, kam ich schliesslich zur Idee, dass ich in einem Van leben könnte», sagt Stephanie. Nebst Hobbies wie Biken, Stand-up-Paddling, Filmen von Insekten und Filou bewies sie auf diversen, monatelangen Fernwanderungen, dass sie gut mit Zelt und nur dem Nötigsten zurechtkommt – sei dies auf dem Appa-lachian Trail in den USA oder bei der Durchquerung der Schweiz mit drei Packziegen.
Aus der Van-Idee wird schnell Realität, und, noch bevor sie die Autoprüfung absolviert, erwirbt sie 2017 zusammen mit ihrer Freundin einen Mercedes-Benz 316 CDI Sprinter mit rund 200 000 Kilometern. Dass sie damit Teil eines Campingmegatrends wird, ahnt sie damals noch nicht. «Von Vanlife habe ich vorher nie gehört.»
Der Sprinter sei zwar in tadellosem Zustand gewesen, doch dem Innern fehlte die Persönlichkeit. Und so wagt sie sich an den eigenhändigen Umbau: Küche, Wände, Boden, Elektrik – mehrere, lange Monate hantiert sie mit Stichsäge und Bohrmaschine und verwandelt die rund zehn Kubik-meter (ohne Fahrerkabine) in ein wohnliches, praktisches Zuhause. Viel Holz, Lampen, Küchenfliesen, Porzellangeschirr, Vorhänge, Pflanzen und Teppich verleihen dem auf Effizienz getrimmten Interieur Charme. «Es ist alles ein wenig schräg, aber mir gefällt’s, und ich weiss genau, was ich wo finde», erklärt sie während des – zugegeben – kurzen Rundgangs. Die Schuhe bleiben, wie in jeder anderen guten Stube auch, draussen.
Stephanie klopft mit der Handfläche auf einen breiten, mit Kunstfell überzogenen Sitz. Mit einem Grinsen hebt sie den Deckel, und ein kleines WC kommt zum Vorschein. «Diese Toilette sowie die kleine Solaranlage auf dem Autodach sind am allerwichtigsten für mich. Denn damit bin ich autark», sagt sie ernst und fügt an: «Das richtige Vanlife findet oftmals abseits der gut ausgestatteten Campingplätze statt und verlangt zwischendurch auch einmal, wild zu campen. Eigener Strom und ein Klo sind dann Gold wert.» Dass man beim Wildcampen, wenn möglich, den Besitzer um Erlaubnis fragt und den Platz so verlässt, wie man ihn vorgefunden hat, verstehe sich von selbst. «Wer sich an die Regeln hält, hat erstaunlich wenig Probleme. Ich wurde in all der Zeit bisher nur ein einziges Mal weggeschickt.» Hin und wieder gönnt sie sich einen Aufenthalt auf einem Campingplatz, zum Beispiel in den Ferien. Aus finanziellen Gründen und aufgrund ihrer Spontaneität bevorzugt sie jedoch Stellplätze, und zwar die offiziellen, legalen. Die, wie sie sagt, momentan grösste Hürde des Vanlifes.
«Es gibt schlicht zu wenig!» Das unerlaubte Wildcampen sei jeweils nur eine Notlösung, weil das Angebot an Stellplätzen in der Schweiz, die man spontan anfahren kann, ungenügend sei. Ein Zustand, den sie selber aktiv zu verändern versucht. Nebst ihrer Festanstellung als Sozialarbeiterin stockt sie ihr Budget als Camping autorin – unter anderem auch für den TCS Camping-Insider – sowie als Scout für parknsleep.app auf. Die Web-Applikation zeigt Stellplätze, die ohne Vorreservierung angefahren werden können und dank digitalem Check-in und Check-out, Live-Verfügbarkeitsanzeige sowie Onlinebezahlung den Alltag einer Camperin und das Leben der digitalen Nomaden enorm erleichtern.
Wikipedia definiert den digitalen Nomaden als einen «Unternehmer oder Arbeit nehmer, der fast ausschliesslich digitale Technologien anwendet, um seine Arbeit zu verrichten, und zugleich ein eher ortsunabhängiges beziehungsweise multilokales Leben führt.» Eine Beschreibung, die für Stephanie Köllinger nicht zutreffender sein könnte. Für ihre Jobs benötigt sie lediglich einen Laptop und einen Smartphone-Hotspot. Als «Fan der Digitalisierung», wie sie sich selbst nennt, wird sie von einer ganzen Armada an Apps und digitalen Helfern in ihrem Nomadentum unterstützt: Wohnmobilland Schweiz, nomady.ch, tcs.ch, Google Maps, Meteo Swiss oder Twint sind nur einige der Apps und Websites, die sie regelmässig antippt.
Einsam fühlt sie sich selten, Filou sei Dank. Und mit Michèle Ottiger hat sie eine gute, gleichaltrige Kollegin, die ebenfalls einen ausgebauten Van besitzt und Stephanie regelmässig begleitet – gerade sind sie zusammen aus der Toskana zurückgekehrt. «Wir haben uns nach der Schule aus den Augen verloren und vor etwa zwei Jahren zufällig mit unseren Vans wieder getroffen. Seitdem sind wir Van-Buddies», erklärt Michèle, während sie den mit Mozzarella und Tomatensauce gefüllten Pizzateig in einen Omnia-Campingbackofen gibt. «Mitschi», wie sie Stephanie nennt, ist eine leidenschaftliche, exzellente Köchin, spezialisiert auf die Campingküche. Im Handumdrehen zeigt sie ihr Können und zaubert nebst dem fantastischen Pizzabrot einen bunten Salat und einen alkoholfreien Cocktail, der so manchen Barkeeper blass aussehen lässt.
Mittlerweile gebe es eine regelrechte Vanlife-Community in ihrer Region. «Manchmal treffen wir uns mit fünf, sechs anderen Leuten und ihren Vans zum Grillieren und Erfahrungsaustausch. Alles Menschen, die das Vanlife wirklich verinnerlicht haben», sagt Stephanie mit einem kritischen Blick auf den aktuellen Trend. «Viele unterschätzen den Aufwand, die Verpflichtungen und auch die jährlichen Unterhaltskosten von rund acht- bis zehntausend Franken im Jahr, welche dieses Leben mit sich bringt.» Vanlife sei eben mehr als ein bisschen Camping, und sie rechne damit, dass schon bald viele Campervans wieder zum Verkauf stehen. «Es ist eine bewusste Lebensform, eine Entscheidung», sagt sie und nimmt einen Schluck Incarom aus dem Porzellanbecher. «Es verlangt schon ein wenig mehr, als nur die Schuhe auszuziehen.»
Stephanie Köllinger teilt ihr Leben im Van auf ihrem Instagram-Account filouandthevan sowie auf ihrer Website: stephanie-koellinger.com
Text: Dominic Graf
Fotos: Emanuel Freudiger
MITSCHIS OMNIA-PIZZABROT
Teig
500 Gramm Mehl, 250 Milliliter lauwarmes Wasser, 1 Würfel Hefe, 1 Teelöffel Salz, 1 Prise Zucker, 2 Esslöffel Öl/Olivenöl.Alle Zutaten in eine Schüssel geben, zu einem Teig kneten und dreissig Minuten stehen lassen. Den Teig danach viereckig ausrollen.
Füllung
200 Gramm Tomatensauce, 150 Gramm Mozzarella.Den Teig mit Tomatensauce bestreichen und danach mit Mozzarella belegen. Den belegten Teig der Breite nach einrollen und in den Omnia-Campingbackofen legen. Auf maximaler Stufe dreissig Minuten backen.
Unterwegs Geld verdienen
Du bist mit dem Camper unterwegs und kommst an einem schönen Stellplatz vorbei? Als Scout von Parknsleep verdienst du beim Reisen Geld, wenn du neue Stellplätze vermittelst.
parknsleep.eu
Solar-Generator
Du baust deinen Camper selbst aus, hast aber keine Ahnung von der Stromversorgung? Dann mach es wie Steffi und kauf dir eine Powerstation. Beliebt sind Modelle von Goal Zero, Ecoflow oder Jackery.
parknsleep.eu
Toilette an Bord
Ohne WC solltest du weder wild campen noch auf Stell-plätzen übernachten. Mit einer Toilette an Bord trägst du zudem zu einem positi-ven Camperimage bei.
Duschen
Hier kannst du Duschen: Campingplätze, Hallen- und Freibäder, Wellnessanlagen, Fitnesscenter, Solarien, Sportanlagen, bei Freunden, öffentliche Duschen (z. B. McClean), einige Raststätten, Hotels, Airbnbs, Jugend-herbergen, Couchsurfen, Outdoordusche.
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