Text und Fotos Dominic Graf
Fragt ein Tourist einen Einheimischen, ob er eine Katze sei, wird er wohl überall schräg angeschaut. Nicht so in Madrid. Nicht so Luis. «Ich gehöre tatsächlich zu den Gatos.» Beim Aussprechen des spanischen Wortes für Katzen umschmeichelt ein Lächeln seinen Schnurrbart. «Nur wenn die Eltern und die Grosseltern in Madrid geboren sind, darf man sich so nennen», fährt der geschätzt sechzigjährige, waschechte Madrilene fort. Trotz Sprachbarriere klappt es mit der Kommunikation. Mit Händen und Füssen, und Übersetzungs-App. Es ist später Nachmittag, die Zeit, in der sich die Menschen Madrids am liebsten zu Drinks und Tapas treffen. Eine gute Gelegenheit, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und die Hauptstadt Spaniens aus dem Blickwinkel der Madrileños kennenzulernen.
Für den Tardeo, wie der Nachmittagsapéro heisst, begibt man sich, natürlich, in eine Tapasbar. Davon verteilen sich rund 15 000 über die zweitgrösste Stadt der EU. Bei 3,3 Millionen Einwohnern kommt auf jeweils 220 Personen eines dieser Lokale mit den berühmten Häppchen.
Luis sitzt am Tresen der Casa Alberto im Barrio des Las Letras. Von aussen an der roten Eingangstür – einst die Farbe des Weines – erkennbar, zählt das Alberto zu einer Reihe von traditionellen Tavernen, duftenden Feinkostläden und lebhaften Restaurantterrassen in Madrids Dichterviertel. Mitten im Stadtzentrum lässt sich aber nicht nur der kulinarische Horizont bequem zu Fuss erweitern, auch der kulturelle. Schliesslich liegt kein Geringerer als Miguel de Cervantes, der Autor von «Don Quijote», hier im Kloster der barfüssigen Trinitarier begraben.
«Sí, sí. ¡Cervantes!» Als Gato weiss das Luis natürlich und erzählt, dass «Don Quijote» nach der Bibel das meistgedruckte Buch und sogar einst zum besten der Welt erkoren worden sei. «Ganz offiziell», nickt er, so, als hätte er einen Teil dazu beigetragen. Und, noch wichtiger, Spaniens Nationaldichter habe in diesem Haus gelebt. «1614. Hier. Genau über uns», sagt er und blickt zur Decke. Die Geschichtslektion erteilt er mit Freude, und er bestätigt damit den offenherzigen, redseligen Ruf der Hauptstädter – sogar Touristen gegenüber.
Luis’ Augen wandern auf das Tellerchen mit Oliven und Speck, das kostenlos zum Wein gereicht wird. «¡Come!», fordert er seinen Sitznachbarn in väterlichem Ton auf. Wer trinkt, müsse auch essen. Dies sei schliesslich der Sinn und der Ursprung der Tapas. «Früher haben die Leute nichts zum Alkohol gegessen und waren schnell betrunken. Das war schlecht fürs Geschäft. Also begannen die Wirte, einen Teller mit Häppchen auf das Glas zu stellen, es zu bedecken. ‹Tapar› auf Spanisch.» Mittlerweile seien Tapas überall auf der Welt ein Begriff, und sie werden auch in grösseren Portionen kostenpflichtig angeboten. Aber in Madrid, besonders hier bei den Dichtern, seien sie schlicht am besten. Luis empfiehlt die geräucherten Sardinen und das Calamari-Sandwich für je ein paar Euro.
21.30 Uhr: Zeit, sich von Luis zu verabschieden und den letzten Sonnenstrahlen im Parque de la Montaña zuzusehen, wie sie den kolossalen Königspalast in ein dunkles Violett hüllen. Studierende und junge Verliebte stimmen sich auf dem Hügel mit dem ägyptischen Tempel auf die Nacht ein und ziehen von hier aus weiter zum Abendessen. Ihr Ziel ist jedoch weniger das Dichterviertel, sondern das moderne, nicht minder interessante Madrid, zum Beispiel das Bankenviertel Azca oder das Quartier Chamartín mit Real Madrids Fussballstadion Santiago Bernabéu. Ob mit den Jungen im Norden der Stadt oder dem alten Kater hinter der roten Tür – der Weg zum wahren Madrid führt über seine Leute.
Übernachten:
Hotel Catalonia Puerta del Sol, Calle de Atocha 23.
Guter Standort, um das Zentrum zu Fuss zu erkunden.
Einkehren:
Pabblo, Plaza Pablo Ruiz Picasso 1. Hier trifft sich das junge und mondäne Madrid zu Ribeye und Livemusik.
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